Entwicklung des Vermessungswesens
Der Rückblick in die Geschichte zeigt bemerkenswerte Eigenschaften und
Funktionen des Vermessungswesens in den verschiedenen Kulturen und Staaten auf.
Aus der Fülle der vorliegenden Quellen seien jene betrachtet, welche in
der Frühzeit die Entwicklung in Ägypten, in Griechenland, im römischen
Reich, in China. Arabien und die neuere Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert aus
weltweiter Sicht betrachtet.
Ägypten
Ab etwa 4000 v. Chr. entwickelten sieh im Mittelmeerraum unabhängig voneinander
die Kulturen Ägyptens und Mesopotamiens. Das Geschehen in Ägypten
wurde durch den Nil geprägt, der weitflächiges Schwemm- und Weideland
im Mündungsdelta und einen schmalen fruchtbaren Landstreifen entlang des
Oberlaufes durch jährliche Überschwemmungen bereitstellte. Hinter
diesen breitet sieh die Wüste aus. Die Errichtung und Erhaltung von Ent-
und Bewässerungsanlagen, der Bau von Tempeln und städtischen Siedlungen
und die Einrichtung, von Bergwerksanlagen sowie die Aufteilung des überschwemmten
Landes durch die Vermessung waren wichtige Aufgaben für die Gesellschaft.
Hier diese wurden besondere Techniken entwickelt.
Über mathematische Grundlagen hierfür und Hinweise für die Anwendung
wird in einem etwa 1500 v. Chr. verfassten Papyrus berichtet. Die Absteckung
der Tempel, Pyramiden, städtischen Anlagen, Wasserleitungen und Tunnel
für den Bergbau, die astronomische Orientierung der Bauwerke sowie die
Festlegung des mit der mittleren Nilflut zusammenfallenden Beginns des Jahres
waren Aufgaben der Vermessung. Die Landes- und Ingenieurvermcssung war in Ägypten
auf einem hohen Stand. Ihre Tätigkeit und die durch sie vermittelten Informationen
haben den Ablauf des bürgerlichen Lebens wesentlich beeinflusst. Die Informationen
standen aber nur wenigen, nämlich den Regierenden, zur Verfügung.
Für den einfachen Mann waren nur die Auswirkungen von Bedeutung. Dies gilt
aber nicht für die Erdmessung. Die Erde wurde als eine vom Nil durchflossene
und vom Meer umgebene Scheibe angesehen. Vier Stützen trugen das Himmelszelt.
Die Frage, ob die Erdscheibe rund oder viereckig sei wurde diskutiert. Die über
die gesamte Erde und ihre physikalischen Eigenschaften vermittelten Informationen
waren gering.
Griechenland
Andere Verhältnisse lagen in Griechenland vor, das die Nachfolge der Ägypter
und Mesopotamier auf kulturellem Gebiet antrat. Im Lande Homers wurde bereits
im 8. Jahrhundert v. Chr. versucht mit wissenschaftlichen Verfahren der Naturphilosophie
Gründe für die bisher festgestellten Erscheinungen in der Natur zu
finden. Dies führte zu gewaltigen Fortschritten in der Erdmessung, aber
auch die Landes- und Ingenieurvermessung wurde gefördert.
In der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. kam Pythagoras auf Grund von
philosophischen Überlegungen zum Schluss, dass die Erde eine kugelförmige
Gestalt habe. Nach Diskussionen über die physikalische Möglichkeit
dieser These, vor allem der Frage, wie im gegenüberliegenden Punkt, dem
Antipoden, die am Kopf stehenden Menschen existieren können, teilte etwa
200 Jahre später Aristoteles physikalische Beweise hierfür mit. Nach
weiteren 200 Jahren, um 340 v. Chr. bestimmten Erathostenes
und 150 Jahre später auch Posidonius den Radius der Erdkugel. Etwa 100
n. Chr. schrieb Ptolemäus ein Lehrbuch für die Erdmessung und Kartographie,
das 800 Jahre später von den Arabern übersetzt und als Almagest auch
in Europa benutzt wurde. In diesem wird auch das geozentrische Sonnensystem
(Ptolcmäischcs System) beschrieben, nicht aber das von Aristarch bereits
350 Jahre vorher mitgeteilte heliozentrische System, das dem 1500 Jahre später
aktuellen kopernikanischen System entspricht. In Griechenland wurden die Erdmcssung
und die Lehre von der Struktur des Sonnensystems auf eine wissenschaftliche
Basis gestellt. Auch für die Landes- und Ingenieurvermessung wurden neue
Hilfsmittel und Theorien bereitgestellt. Dadurch wurden Entdeckungsreisen angeregt
und die Geographie und die Kartographie bereichert. Die Informationen über
die Figur der Erde und ihre Eigenschaften wurden erheblich vermehrt und vertieft.
Für die Ingenieurvermcssung und für die Landesvermessung wurden neue
theoretische Erkenntnisse bereitgestellt, welche die wirtschaftliche Erschließung
der Länder durch den Bau von Städten, Straßen, Wasserleitungen,
Bergwerken u. a. wesentlich verbessert haben.
Römisches Reich
Nach dem Zusammenbruch der griechischen Staaten übernahm Rom die Nachfolge
als Weltmacht, nicht aber als geistiges Zentrum. Das Interesse Roms galt nicht
den Wissenschaften an sich, sondern ihren praktischen Anwendungen. Die reinen
Wissenschaften wurden in Randgebieten des Imperiums, vor allem in Alexandria
gepflegt.
Das römische Vermessungswesen ist durch seine Organisation und seine großräumigen
Projekte gekennzeichnet. Die Vermessung des Limes, bei der gerade Linien von
mehr als 100 km Länge mit geringen Abweichungen von nur ± 1m abgesteckt
wurden, die Trassierung von über 90 km langen Wasserleitungen, die Absteckung
eines Rasters mit etwa 700 m Seitenlängen für eine 100 Quadratkilometer
überdeckende Centurionsiedlung in Tunis, sind Beispiele hierfür. Ebenso
die unter Cäsar vom Senat angeordnete Vermessung des gesamten Reichsgebietes
und dessen Darstellung in einer Reichskarte sowie auch Straßenkarten für
die 10 000 km langen Haupt- und 200 000 km langen Nebenstraßen des Reiches.
Für die Durchführung dieser gewaltigen Vcrmessungsleistungen wurden
Agrimensoren ausgebildet und vereidigt, und zwar Msstechniker (gromatici), Grenzingenieure
(finitores) sowie Ackerrichter für die Zuteilung der Felder. Auch für
die Durchführung von militärischen Aufgaben wurden Agrimensoren eingesetzt.
Zur Theorie der Erdmessung und Landesvermessung wurde aber in Rom wenig beigetragen.
Nach Cantor haben die Römer für die Feldmesskunst der Griechen eine
aufbewahrende Mittelstelle abgegeben und ähneln darin den Arabern, nur
dass sie weniger in sich aufnahmen, entsprechend ihrer geringen mathematischen
Begabung. Hinzuuerfunden haben sie so gut wie nichts, höchstens einige
Operationen wirklicher Feldmesskunst.
China
Die Geschichte Chinas beginnt im 3. Jahrtausend vor Christus. Die älteste
bekannte Landkarte stammt aus dem 2. Jahrtausend, bereits im 11. Jahrhundert
fand eine Vermessung des gesamten Staatsgebietes statt. Um 100 v. Chr. wurde
(von Chan Tsang) ein neunbändiges Lehrbuch der Mathematik publiziert. in
dem auch Regeln für die Durchführung von Vermessungen enthalten sind.
Andere Bücher beschreiben Instrumente, formulieren und lösen praktische
und theoretische Aufgaben der Vermessung. Im 3. Jahrhundert wurde eine Karte
des Reiches mit 18 Blattern angefertigt.
Als Erdmodell wurde erst eine rechteckige Fläche und dann eine konvexe
sphärische Schale innerhalb der Himmelskugel angenommen. Das Niveau der
Vermessung im alten China entsprach in mathematischer und instrumenteller Hinsicht
dem der Ägypter und Römer, in der Erdmessung fehlte der Höhenflug
der Griechen.
In der Tang Dynastie (7. his 9. Jahrhundert) änderte sich das Bild. Eine
Akademie der Wissenschaften wurde gegründet, alle Wissenschaften, auch
die Vermessung, erlebten einen Aufschwung. Im Jahre 725 wurde zur Bestimmung
der Erdfigur ein etwa 3000 km langer Gradbogen gemessen, der zu einem besseren
Wert des Erdradius fuhren sollte als die 200 km langen, ungenauen Gradbogen
der Griechen.
Arabisches Reich
Nach der Eroberung von Spanien im 8. Jahrhundert entstanden im Großarabischen
Reich beachtenswerte kulturelle Leistungen. In der Mathematik wurden die noch
heute benutzten arabischen Zahlen, die Grundlage des Dezimalsystems, eingeführt.
Natürlich profitierte auch die Erdmessung von dieser Blütezeit. Anfang
des 9. Jahrhunderts, etwa 1000 Jahre nach der griechischen und etwa 100 Jahre
nach der großen chinesischen Gradmessung, wurde eine arabische Gradmessung
mit einem Bogen von 2 Grad (ca. 220 km) ausgeführt. Außerdem wurde
ein neues Verfahren für die Bestimmung des Erdradius aus Höhen und
Höhenwinkeln angegeben.
Nach den Regeln von Ptolemäus und mit den Erfahrungen der Handelsleute,
Krieger und Diplomaten wurden verbesserte Land- und Weltkarten angefertigt.
Für die praktische Vermessung stand eine als Misaha bezeichnete Lehre,
die von Feldmessern, Kataster- und Steuerbeamten sowie Baumeistern bis etwa
1600 benutzt wurde, zur Verfügung.
Neuzeit bis Gegenwart
Nach den vorhergehenden Ausführungen haben im antiken Griechenland die
Erdmessung und in Ägypten und Rom die Landes- und Ingenieurvermessung eine
bedeutsame Entwicklung erfahren. Aus dieser folgten wiederum wesentliche Beiträge,
welche die technische Aufschließung der Länder und die Vermehrung
der Erkenntnisse über unsere Welt betroffen haben. Die durch die Vermessung
vermittelten Informationen haben daher für die geistige Entwicklung Grundlagen
geschaffen. Sie waren aber auch Voraussetzung für die Einbeziehung neuer
Lebensräume der Welt und der Umwelt und für die Verwaltung dieser.
Mit der Verbreitung der christlichen Lehre begann eine Epoche des Glaubens.
Die naturwissenschaftliche Forschung kam zum Stillstand und wurde durch Postulate
ersetzt, die in heiligen Büchern entweder enthalten waren oder durch Auslegung
daraus abgeleitet wurden. Die Kugclform der Erde wurde nicht mehr anerkannt.
Erdmodell wurde wieder eine vom Meer umflossene
Scheibe. Erst die im 16. Jahrhundert erfolgte Wiedergeburt der Kunst und
der Kultur der klassischen Antike (Renaissance) führte auch in der Vermessung
zu neuen Erkenntnissen und Verfahren und zwar sowohl für die Erdmessung
als auch für die Landes- und Ingenieuvermessung. Dabei entwickelten sich
die Kartographie, die Fernerkundung (Photogrammmetrie, Laserscanning) und die
Vermessung mit Hilfe von Satelliten zu neuen Disziplinen, welche neben eigenen,
auch Ziele der Vermessungskunde verfolgen.
Auslösend für die neue Phase der Erdmessung waren die 1543 von N.
Kopernicus publizierten Ansichten Ober das heliozentrische Planetensystem, dessen
Grundgedanken wie erwähnt - bereits 1900 Jahre zuvor von Aristarch (265
v. Chr.) ausgesprochen wurden.
In der Folgezeit fand eine stürmische Entwicklung der Theorien und der
für die praktische Vermessung benötigten Instrumente und Verfahren
statt. Kepler (1571- 1630) fand die Gesetze, nach denen sich die Planeten um
die Sonne bewegen. Galilei (1564 -1642) wurde von der katholischen Kirche zum
Widerruf der Lehre von Kopernicus veranlasst. Newton (1643 - 1727) entdeckte
das übergeordnete Gravitationsgesetz. Zur Bestimmung der Figur der Erde
wurden zahlreiche mathematische und physikalische Theorien ausgearbeitet, über
welche Laplace (1749- 1827) zusammenlassend berichtet. Zur Bestätigung
oder Widerlegung der neuen Theorien wurden Gradmessungen, astronomische Messungen
und Schweremessungen ausgeführt. Damit hat die Erdfigur eine Entwicklung
von der Scheibe zur Kugel. Ober das Ellipsoid zum kartoffelförmigen Geoid
durchgemacht.
Meilensteine in dieser Entwicklung sind die Erfindung der Triangulierung (Snellius
1611) und des Theodolits (Sisson 1730) sowie verfeinerte Verfahren der Grad-
und Pendelmessung und der astronomischen Positionsbestimmung. Ebenso die Begründung
der ellipsoidischen Geometrie und der Ausgleichsrechnung durch Gauß (1777-7855).
die Theorien von Molodensky (1925) zur Bestimmung der Erdfiguren als Randwertproblem,
die Entwicklung der Entfernungsmessung mit elektromagnetischen Wellen, die Verwendung
von Satelliten als geodätische Anschlusspunkte, als Träger von Messeinrichtungen
und als zeitabhängiges Kontrollpunkt-System. Dazu kommen die Bereitstellung
der Computer und damit die Automatisierung der Mess-, Rechen- und Zeichenvorgänge
durch die Digitalisierung.